Veranstalter | Modern Studio Freising e. V. |
Veranstalter-Adresse | Haxthausen 14, 85354 Freising, Deutschland |
Quelle | Stadt Freising |
42. Literarischer Herbst - Slata Roschal — 153 formen des nichtseins
Camerloher-Gymnasium
Simona Mulazzani
Die Veranstaltung
Dreimal fragt die Russin am Obststand nach dem Preis der Melone. Sie bekommt keine Antwort. Die Verkäuferin sortiert weiterhin Zitronen und beachtet sie nicht. Obwohl sie sicher auffällt, eine ältere Frau mit blondierten Haaren und grell geschminkten Lippen, kann sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Damit beginnt das Buch. In 153 kurzen Passagen erzählt die junge Ksenia von sich, von ihrem Dasein, das sie selbst als Nichtsein begreift. Es gibt Bruchstücke aus ihrem Leben, nicht zusammenhängend, aber einigermaßen chronologisch geordnet. Szenen aus Kindheit und Jugend, manchmal einfach nur dargestellt, oft aber reflektierend erinnert, mit der Absicht, diesem Gefühl der fehlenden Identität auf die Spur zu kommen.
Als sie vier Jahre alt war, kam die Familie als Kontingent-Aussiedler wegen eines möglicherweise jüdischen Großvaters von Russland nach Deutschland. Ein paar Jahre davor waren die Eltern – und damit auch die Kinder – Zeugen Jehovas geworden. In der neuen Heimat hatten sich die Eltern in der Gemeinschaft der Zeugen eingerichtet, fanden Halt an den strengen Geboten und lebten auf das baldige Paradies hin. Für die heranwachsende Ksenia war die ständige Bevormundung kaum auszuhalten, dazu die Isolation! Keine Freundinnen in der Schule wegen der altjüngferlichen Röcke und in der Religionsgemeinschaft innere Einsamkeit. Dass zur Lebensführung der Zeugen Jehovas kein Weg führte, lassen Auszüge aus deren Schriften ahnen. „Tipps für junge Mädchen“ scheinen das einzige Ziel zu haben, diese von Jungen möglichst fernzuhalten und vor allem vor körperlicher Nähe zu warnen.
In einem Internet-Forum für russische Frauen liest Ksenia sich durch die Klage-Mails unzufriedener Ehefrauen. Zu dieser Zeit ist sie selbst auch schon verheiratet. Aber kann sie sich wiederfinden in den Lamentos ihrer Geschlechtsgenossinnen über enttäuschte Illusionen? Sie hat Mann und Kind. Artur und sie sind eigentlich ein gutes Paar und der kleine Emil entwickelt sich erfreulich, obwohl sie immer wieder zweifelt, ob sie ihn richtig erzieht. Und sie schreibt, nimmt an Autorentagungen teil, hat literarischen Ehrgeiz. Je mehr ihre Autorenschaft thematisiert wird, ihre Existenz neben der Familie, desto mehr ändert sich der sprachliche Ausdruck. Ist es zuerst eher ein Erzählfluss, der Bilder hervorbringt, Vorstellungen weckt, sind es in der späteren Phase Wortkaskaden, die sich aneinander reihen, in rascher Folge, oft in gedrängtem Rhythmus oder langsam und weit ausholend, je nach innerer Stimmung der Protagonistin. Am Ende jedenfalls steht für den Leser eine Form des vielschichtigen Seins, nicht des Nichtseins.
Slata Roschal, geboren 1992 in Sankt Petersburg, ist eine deutsche Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Für ihr literarisches Schaffen, vor allem auf dem Gebiet der Lyrik, erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise. Aktuell promoviert sie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München.